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Mentale Gesundheit - Politisches Problem ohne Plattform

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Apr.
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Discordianer
Triggerwarnung direkt am Anfang: Ich habe mir sehr große Mühe gegeben, keine Störungsbilder oder Einzelfälle zu detailliert auszuführen. Dennoch ist das Thema mentale Gesundheit ein sensibles. Wer sich nicht gut damit fühlt, darüber nachzudenken oder darüber zu diskutieren, der sollte an dieser Stelle vielleicht nicht weiter lesen.

Mentale Gesundheit ist so ein Thema. Niemand würde es als unwichtig betrachten. Damit kritisch befassen, möchte man sich dann aber vor allem politisch auch nicht. Warum aber ist es dringend geboten, sich damit auch politisch viel intensiver und breiter auseinanderzusetzen? Weil viele Themen und Debatten den Faktor Mental Health überhaupt nicht überblicken und erst recht nicht einbinden. Aber der Reihe nach.

Wir kennen mittlerweile alle die Diskussionen. Es passieren schlimme Straftaten. Die Einen, mit Schaum vor dem Mund, lauern auf Hautfarbe, Vornamen und Aufenthaltsstatus, die Anderen warnen vor politischer Instrumentalisierung, wieder andere sehen diese Warnungen als eigentliche Instrumentalisierung. Alle sind betroffen. Alle sind geschockt. Die Reaktionen fallen dabei, insbesondere, wenn der Täter kein deutscher Staatsangehöriger war, immer sehr ähnlich aus. Wir müssen was bei der Migration machen, wir müssen mehr abschieben, wir müssen Herr der Lage werden. Das sind keine Töne von ganz rechts, keineswegs. Das geht bis ganz tief in die Mitte, sogar teilweise bis in die linke Mitte. Nach einem ganzen Blumenstrauß von Asylrechtsverschärfungen und Sicherheitspaketen müssten wir mittlerweile utopisch sicher leben. Wir leben auch wesentlich sicherer, als die öffentlichen Debatten das ab und an vermitteln. Die Ursache von schweren Einzelereignissen wurde bislang aber nicht gefunden. Zumindest scheinbar.

In diesem Zusammenhang sei an die Amokfahrt von Trier erinnert. Da fuhr ein Mann mit einem SUV durch die Fußgängerzone und nahm alles und jeden mit, was nicht rechtzeitig zur Seite springen konnte. Mehrere Menschen starben. Der Täter? Ein psychisch kranker Deutscher Ende 40. Wie schieben wir den denn jetzt in der Vergangenheit ab, damit er die Tat nicht begeht? Klingt zynisch, ist aber genau die Art von Aufarbeitung, die politisch geleistet wird, wenn irgendwo durch eine schreckliche Tat Leben genommen und weitere zerstört werden.

Denken wir aber auch an andere schwere Taten aus allen Ecken. Der saudische Islamhasser-Arzt, der psychotische rechtsextreme Täter von Hanau, der seine eigenen Manifeste schreibt und ja, auch wahnhafte Islamisten, die nicht mehr nur religiöse *******, sondern völlig desillusionierte ******* sind. Viele verschiedene Hintergründe gab und gibt es zu den schweren Straftaten, die uns in den letzten zehn Jahren bewegt haben. Es gibt aber den einen, häufig nur im Nebensatz erwähnten gemeinsamen Nenner. Sehr häufig wird irgendwann mal in der Berichterstattung eine psychische Erkrankung eines Tatverdächtigen erwähnt. Wir kennen dann alle die Gruppe Menschen, die mit der Bildzeitung unterm Arm auf dem Sofa sitzend ihr Bierchen auf dem Fliesentisch zwischenparken, um sich erst mal über diesen Umstand zu empören und das als völlig illegitimen Faktor darzustellen.

Hier kommen wir auch zu einem Kernproblem. In breiten Bevölkerungsschichten gibt es zwar ein gewisses Bewusstsein für psychische Erkrankungen, gleichzeitig aber keinerlei Verständnis für Gesundheitsprobleme, bei denen kein Knochen raussteht und keine Bildgebung weiterhilft. Viel mehr noch: Diagnosen werden vom Sofa aus gerne mal abgesprochen und aberkannt, egal ob gegenüber Fremden in den Nachrichten oder Freunden und Bekannten oder, ganz schlimm, in der eigenen Familie. Das führt unweigerlich immer noch dazu, dass Menschen sich nicht anderen Leuten nicht anvertrauen, weil sie sich vor Zurückweisung und Ausgrenzung fürchten.

Hier setzt dann das zweite Kernproblem an. Selbst wenn man den Schritt geht, sich professionell helfen zu lassen, heißt das noch lange nicht, dass man diese Hilfe auch bekommt. Warum? Weil das System, wie es ist, völlig dysfunktional und überlastet ist. Therapieplätze sind heiße Ware. Gleichzeitig kann eine Therapie ein KO-Kriterium im Staatsdienst sein. Schon wieder eine Gruppe, die sich nicht helfen lassen wird, weil die Karriereziele wichtiger sind.

Das Problem ist tragisch, weil es einen riesigen Missstand darstellt, der eigentlich für große Empörung sorgen müsste, allerdings von keiner Partei wirklich groß thematisiert wird. Dabei kosten uns psychische Erkrankungen Unsummen in der Wirtschaft, belasten das Gesundheitssystem und führen im Extremfall zu schlimmen Straftaten. Das Problem also nicht zu thematisieren, schadet uns als Gesellschaft immens. Aber wo kommt denn jetzt genau diese Häufung her?

Es ist in den letzten Jahren vermehrt zu beobachten, dass mehr Menschen offener mit ihrer mentalen Gesundheit umgehen, wenn auch noch nicht in dem Maße, wie es eigentlich notwendig wäre, um einen gesellschaftlich nachhaltigen Impuls zu setzen. Mehr Awareness ist aber immer gut. Jede Person mehr, die sich Hilfe sucht, wenn sie sie braucht, ist wichtig. Dazu kommt aber noch ein weiterer Faktor, der möglicherweise unangenehm sein könnte.

War da nicht was mit einer Pandemie?

Die Covid-19-Pandemie ist in jeder Hinsicht eine Zäsur. Wir haben da als Gesellschaft zwar vieles geschafft, aber es ist auch vieles kaputt gegangen, und damit meine ich nicht nur das Momentum der Klimabewegung. Kinder vor Drohkulisse eines unbekannten Virus zu Hause zu isolieren, klingt schon auf dem Papier nach keiner besonders tollen Idee. War es rückblickend betrachtet auch nicht. Noch mieser ist allerdings die Idee umzusetzen ohne die Folgen aufzuarbeiten. Aus der damaligen Perspektive kann das nämlich noch so sinnvoll gewirkt haben, man muss den Schneid haben zu erkennen, wo man vielleicht doch gewissenhafter nacharbeiten hätte können.

Wir haben gerade bei Kindern und Jugendlichen starke Anstiege bei Gewaltkriminalität. Wir sehen jetzt gerade eine Alterskohorte, die während eines ganz sensiblen Alters, drastische Einschnitte erlebt hat, die nie aufgearbeitet wurden, weder politisch, noch mit den Menschen selbst. Folgerichtig und nach vielen gängigen Kriminalitätstheorien wirklich gar nicht überraschend, bricht sich das in delinquentem Verhalten seine Bahnen. Man könnte auch ganz provokativ mal fragen, warum sich eine Generation genau an die Regeln einer Gesellschaft halten soll, die sie in den verletzlichsten Jahren ihrer Entwicklung so im Stich gelassen hat. Die Zahlen, was psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen angehen, sind beängstigend, aber, und das ist das ja gerade so traurig, alles andere als unerklärbar.

In Großbritannien sind wir da schon einen Schritt weiter. Wer es noch nicht getan hat, möge wärmstens auf Netflix mal Adolescence anschauen. (TW: Kann wirklich beklemmend sein, also besser nicht oder nicht alleine schauen, wenn man selbst gerade ein bisschen struggled).

Wie viel weiter ist man denn in Großbritannien? Also die Gewaltkriminalität unter Kindern und Jugendlichen ist dort noch ausgeprägter und die Politik spricht von einer „Lost Generation“, die zwischen Social Media und Perspektivlosigkeit aufwächst. Das sind keine schönen Aussichten. Natürlich haben die Briten da auch noch ein paar Päckchen mehr zu tragen, siehe Brexit, fair enough. Man kann aber nicht den Blick verschließen davor, dass das einfach von sich aus nicht besser wird.

Alles in allem schippern wir auf einen großen Eisberg zu, die Politik sieht es nicht, will es nicht sehen oder hält es für ein Orchideenthema, das in seiner Wertigkeit ja nicht mit Trump und der Ukraine mithalten kann. So teilt es sich mit dem Klimawandel gerade die Rolle als schwelender Flächenbrand, der irgendwann so groß sein wird, so dass man das Thema kaum mehr einfangen kann. Wir brauchen als Gesellschaft ein radikales Umdenken, was den Umgang mit psychischen Erkrankungen angeht. Wir brauchen in den Schulen wesentlich mehr Sozialarbeiter, die auch wesentlich stärker in den Schulbetrieb eingebunden werden und nicht passiv in einem Eckbüro platziert werden. Wir brauchen eine wesentlich bessere Betreuung traumatisierter Zuwanderer aus Krisengebieten, die Dinge gesehen und erlebt haben, die wir uns hier in Europa kaum vorstellen können oder uns das Blut in den Adern gefrieren lassen würden. Wir brauchen auch die Krankenkassen und Hausärzte, die als erster Ansprechpartner wesentlich stärker wahrgenommen werden müssen und andersherum auch selbst wesentlich sensibler damit umgehen müssen und „Erste Hilfe“ leisten können sollten. Es kann außerdem nicht sein, dass man nur schnell Hilfe kriegt, wenn man es sich leisten kann, einfach als Selbstzahler Privatkliniken und Therapeuten in Anspruch nehmen zu können.


Man sieht, die Baustellen sind riesig, sie sind enorm und können auch nicht in einem Federstrich gelöst werden. Wenn ich es allerdings hinkriege, diese Dinge zu skizzieren, dann glaube ich, dass das in den Ländern und im Bund die Damen und Herren, die dafür sogar bezahlt werden, es auch können. Das Thema muss in den Diskurs. Wir können uns gerade in der Kriminalprävention und mittelbar auch bei der Migration wirklich auf den Kopf stellen. Wir werden unsere Ziele nie erreichen können, wenn wir nicht die grundsätzlichen Probleme lösen. Und viel wichtiger: Wir verlieren gerade eine nicht unerhebliche Zahl Menschen, die mit ihren Problem alleine gelassen werden.


Wir können es uns nicht leisten, dieses Thema zu ignorieren, nur weil es womöglich in Augen vieler ein bloßes Thema von Befindlichkeiten ist. Nein, das ist es nicht. Wir müssen endlich die Augen aufmachen. Bei Kindern, bei Jugendlichen, bei queeren Menschenaa und ganz allgemein.
 
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